In Auszügen erschienen als „Mehr Mut zum Bekenntnis“. Evangelische Zeitung 30.3.2014: 6–7.

1. Öffentliche Entschuldigungen für Verbrechen früherer Generationen sind en vogue. Bill Clinton entschuldigte sich 1998 für den Sklavenhandel und die Untätigkeit der USA während des Völkermordes in Ruanda, Queen Elizabeth für die Unterdrückung der Maoris in Neuseeland. Die australische Regierung entschuldigte sich 2008 bei den Aborigines, die französische Regierung 2008 für die Dreyfuß-Affäre, die kanadische Regierung bei Indianern, deren Kinder zwangsadoptiert wurden.

Papst Johannes Paul II. entschuldigte sich als erster Papst der Geschichte für verschiedene Verfehlungen der katholischen Kirche, etwa die Eroberung Lateinamerikas oder die Verurteilung Galileo Galileis. Papst Benedikt XVI. entschuldigte sich für die Kreuzzüge und brachte 2010 in seinem Hirtenbrief an die irischen Bischöfe erstmals auch die Schuld der Kirche selbst am sexuellen Missbrauch von Kindern durch Geistliche zum Ausdruck.

Doch warum hat man nicht das Empfinden, dass die Kirchen und die Christen da schon lange Vorreiter sind, sondern dass sie sich nur einem – sehr positiven! – Trend anschließen, manchmal eher getrieben als aus Überzeugung?

2. Mutige Menschen stehen positiv zu dem was sie sind, denken oder tun. Mutige Menschen sagen die Wahrheit, wo andere sie lieber verschweigen wollen. Mutige Menschen treten für Arme, Schwache, Unterdrückte und Verletzte ein, wenn keiner sonst die Täter beim Namen nennen will. All das kann man auch dann, wenn man selbst nicht schuldig geworden ist. Sind nicht aber Menschen noch mutiger, wenn sie dies alles tun, aber hinzufügen, inwieweit sie selbst mit schuld sind oder inwieweit sie selbst zu der Gruppe gehören, die sich keine Gedanken über ihre Mitverantwortung macht.

Niemand redet so oft davon, dass alle Menschen schuldig werden, wie die Christen. Niemand redet so oft davon, dass jeder Vergebung braucht, wie die Christen. Und sie heißen Christen, weil in Jesus Christus die Vergebung der Sünden verkündigt wird.

Müsste es da nicht Christen am leichtesten fallen, über ihre Fehler zu sprechen? Warum da noch etwas vertuschen? Und gilt das nicht erst recht für die Kirche als Institution?

Aber die beiden mächtigsten Mitspieler sind hier Schuld und Scham mit dazugehörigen Schuldgefühlen und Schamgefühlen. Beide Seiten sind in den Kulturen ungleich verteilt und Deutschland tendiert eigentlich sehr stark zu einer Schuldkultur, in der man Schuld aufklärt, dann ablöst oder vergibt. Aber auch bei uns hält uns oft ein tiefes Schamempfinden davon ab, solche Schuld einzugestehen, zumindest öffentlich.

Und das Problem hat niemand mehr als der Moralapostel. Wer sich als moralische Instanz aufbaut und diese Instanz mit seiner eigenen Vorbildfunktion verknüpft, hat dann große Mühe, mutig zu Fehlern zu stehen, wenn er sie selbst macht. Und wenn Kirche sich als Institution als Hüterin der Moral sieht, egal ob einer eher traditionellen Moral oder einer eher progressiven, ist oft die Scham zu groß, wenn das Kartenhaus zusammenfällt.

Was haben die großen Kirchen in Deutschland nicht schon alles an guten Ratschlägen in Richtung Wirtschaft gegeben. Als zweitgrößter Arbeitgeber des Landes stünde es ihnen aber gut an, immer bei den eigenen Problemen anzufangen und von dort her zu erklären, was man ändern kann.

Meines Erachtens schwächt es die ethische Verkündigung der Kirchen nicht, wenn sie deutlich macht, dass sie auch nur aus Menschen bestehen, die per Definition nicht hundertprozentig allen Maßstäben genügen, sondern von Gottes Gnade leben. Dagegen schwächt aber nichts die Kirche in ihrer ethischen Verkündigung mehr, als wenn sie verschweigt, leugnet, verharmlost und dann Kräfte von außen die Probleme aufdecken und die Kirche förmlich zwingen müssen, zu gestehen. Man geht zur Kirche und beichtet, die Kirche muss aber nie beichten? Im Zentrum des Gottesdienst steht das Abendmahl als Zeichen der Vergebung, aber wir können als Kirche nicht sagen, was uns denn konkret vergeben werden muss, da das zu beschämend ist?

Aber die Sicht, man schwäche eine ethische Norm, wenn man zugesteht, sie selbst gebrochen zu haben, hält sich hartnäckig.

Warum eigentlich? Lernen wir nicht alle gerade aus Erfahrung, auch aus schlechter? Kann man nicht – ja muss man als Christ nicht sogar – für ethische Normen eintreten, indem man gleichzeitig Gnade verkündigt, ja indem man gleichzeitig deutlich macht, dass man morgen selbst der Täter sein kann? Lehren wir, dass niemand sagen kann: „das könnte mir nie passieren!“? Wie war das bei Paulus: „Darum, wer meint, er stehe, sehe zu, dass er nicht falle“ (1. Korinther 10,12)! Paulus „ermahnt“ in Römer 12,1 Christen gerade „mit der Barmherzigkeit Gottes“. Das mag vielleicht verrückt klingen, ist aber erst eigentlich christlich.

3. Auch wenn echte Ursachenforschung sicherlich ihre Berechtigung hat: Christsein bedeutet nicht, dass man die Schuld bei anderen sucht, sondern dass man sie zunächst bei sich selbst sucht. Jesus verwirft die Worte des Pharisäers: „Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die andern …“ und preist die Worte des Zöllners: „Gott sei mir Sünder gnädig“ (Lukas 18,11–14). In der Bibel beginnt Glaube mit der Erkenntnis der eigenen Unzulänglichkeit. Christsein heißt nach Luther, dass ein Bettler dem anderen sagt, wo es etwas zu essen gibt, nicht das Auftrumpfen gegenüber dem Anderen.

In meinem jugendlichen Leichtsinn diskutierte ich einmal in einem Zugabteil heftig über eine ethische Frage. Ich gewann die Debatte, bis eine Frau plötzlich in etwa sagte: „Genau das hab’ ich selbst getan und ich sehe ein, dass ich damit an jemand anderem schuldig geworden bin. Was sagt denn nun der Theologe da so, was man da macht“. Tja, dass mich eigentlich Vergebung und Neuanfang mehr interessierte als Rechthaberei, hatte man mir wohl nicht angemerkt! Gott, Güte, Vergebung, Kraft zum Neuanfang musste ich jetzt irgendwo ‚aus dem Hut zaubern‘.

Christliche Verkündigung muss immer die Waage halten zwischen der Notwendigkeit, über ethische Normen und Grundlagen zu sprechen, und dem Wissen, dass die Gesunden keinen Arzt brauchen, sondern die Kranken, wie Jesus es einmal gesagt hat.

Ein Arzt muss die Krankheiten kennen und oft auch warnende Worte sprechen. Und doch ist seine Aufgabe nicht, kopfschüttelnd festzustellen, was andere alles so haben und machen, sondern Hilfe anzubieten. Und immer wissen sie, dass sie selbst auch Menschen sind, die selbst krank werden können oder sind.

4. Die Bibel ist voller kritischer Berichte über das Volk Gottes. Ehebruch und Mord des David schwächen nicht die Psalmen, sondern liefern den Anlass für den bedeutendsten Bußpsalm des Alten Testaments (Psalm 51 zu 2. Samuel 6–7). Nicht nur David, auch Mose und Paulus waren früher Mörder. Die Fehler des Petrus, der Jesu Leiden für sinnlos hielt und kurz vor der Kreuzigung garantierte, Jesus nie zu verleugnen (Matthäus 26,33–35) und der vom Apostel Paulus scharf kritisiert werden musste, weil er nicht mit den Heidenchristen essen wollte (Galater 2,11–14), erfahren wir nicht aus gegnerischen Schriften, sondern aus dem Neuen Testament. Das Neue Testament berichtet, dass die reichen Gemeindeglieder oft Arme in der Gemeinde hungern ließen (1. Korinther 11,21–22) oder den Lohn nicht pünktlich ausbezahlten (Jakobus 5,4). Ganze Bücher des Alten Testaments widmen sich dem schonungslosen Offenlegen der Zustände unter den Juden (z. B. der Prophet Micha), ganze Bücher des Neuen Testamentes legen die schlimme Situation in christlichen Gemeinden bloß (z. B. 1. Korinther). Meist stehen die Römer besser da als die Christen.

In keiner Religion kom­men die Anhänger der eigenen Religion so schlecht weg wie in der Bibel. Die Lehre, dass auch Juden und Christen Sünder und zu den schlimmsten Taten fä­hig sind, wird in der Bibel sehr anschaulich vor Augen geführt. Selbstkritik gehört deswegen zum Wesen des Christseins. Mit seiner heiligen Schrift ist dem Christentum eine schonungslose und ehrliche Selbstanalyse ins Stammbuch geschrieben worden.

 

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