(idea, 07.01.2012) In der evangelikalen Bewegung Deutschlands gibt es keinen grundsätzlichen Streit darüber, ob Christen eher evangelisieren oder sich gegen gesellschaftliche Missstände wenden sollten. Es sei unbestritten, dass soziales Engagement ebenso zum christlichen Auftrag gehöre wie die Predigt des Evangeliums, erklärte der Vorsitzende des Arbeitskreises für evangelikale Missiologie (AfeM), Prof. Thomas Schirrmacher (Bonn), am Ende der Jahrestagung, die am 4. und 5. Januar in Herrenberg bei Stuttgart stattfand. Zu den Referenten gehörten Befürworter klassischer Evangelisationen wie der ProChrist-Leiter, Pfarrer Ulrich Parzany (Kassel), und Vertreter der sogenannten Transformationstheologie, die nach Ansicht von Kritikern den christlichen Glauben vor allem als Aufforderung zur Verbesserung gesellschaftlicher Verhältnisse betrachten. Vor mehr als 100 Mitarbeitern evangelikaler Missionswerke und Ausbildungsstätten betonte Parzany, dass allein das Wort Gottes Menschen vor der ewigen Verlorenheit retten könne und deshalb gepredigt werden müsse. Es schaffe neues Leben und bewirke damit Veränderungen im Leben Einzelner und in ihrer Umgebung. „Eine Verkündigung des Evangeliums ohne eine Transformation der Verhältnisse wäre ein Widerspruch“, sagte Parzany. Der Leiter des Studienprogramms Gesellschaftstransformation am Marburger Bildungs- und Studienzentrum, Tobias Faix, beschrieb Transformation als einen Veränderungsprozess, der sowohl die Wortverkündigung als auch soziales Engagement umfasse. Ziel sei, „den Glauben in der Welt sichtbar zu machen“. Der Missionswissenschaftler Prof. Johannes Reimer, der an der Universität von Südafrika und der Theologischen Hochschule Ewersbach (Dietzhölztal/Mittelhessen) lehrt, wies die Vermutung zurück, dass Transformationstheologen die Gesellschaft verändern wollten. Es gehe vielmehr darum, die Relevanz des Evangeliums für das Zusammenleben herauszustellen. Gemeinden brauchten Hilfen, damit sie Licht und Salz der Erde sein könnten.
Wann beginnt das Reich Gottes?
Unterschiedliche Meinungen, die bei der Tagung sichtbar wurden, betrafen die theologische Begründung sozialen Handelns. Vertreter der Transformationstheologie stellten gesellschaftliches Engagement als Ausdruck des mit dem Wirken von Jesus Christus begonnenen Gottesreiches dar. Ihrer Ansicht nach kann das Reich Gottes in der Gegenwart durch veränderndes Handeln von Einzelnen und Gemeinden ausgebreitet werden. Zentrale Anliegen seien der Einsatz für Gerechtigkeit und Frieden, wie Gott es im Alten und Neuen Testament verlange. Dagegen vertrat der Rektor der Internationalen Hochschule Liebenzell, Prof. Volker Gäckle (Bad Liebenzell/Nordschwarzwald), die Auffassung, dass Jesus und die Apostel unter Reich Gottes die Erwartung eines zukünftigen Reiches und einer ewigen Zeit verstanden hätten, die jetzt noch unsichtbar seien. In einigen Schriften von Transformationstheologen verliere außerdem die Hoffnung auf eine Wiederkunft Jesu Christi an Bedeutung. Dem AfeM-Vorsitzenden Schirrmacher zufolge handelt es sich um einen „innerfamiliären Streit“, der nichts an der grundsätzlichen Einigkeit ändere. Auch die Liebenzeller Mission beschränke sich nicht auf die verbale Verkündigung des Evangeliums, sondern trage durch medizinische, landwirtschaftliche und Versöhnungsprojekte zur Verbesserung sozialer Verhältnisse bei. Schirrmacher ist auch Vorsitzender der Theologischen Kommission der Weltweiten Evangelischen Allianz.
Unterschiedliche theologische Einsichten ertragen
Der Vorsitzende der Deutschen Evangelischen Allianz und Präses des Evangelischen Gnadauer Gemeinschaftsverbandes (Vereinigung landeskirchlicher Gemeinschaften), Michael Diener (Kassel), mahnte, die Anfragen an die Transformationstheologie ernstzunehmen und gemeinsam in der Bibel Antworten zu suchen. Dabei müsse man ertragen, dass man zu unterschiedlichen Einsichten gelange. Niemand dürfe den Anspruch erheben, im alleinigen Besitz der Wahrheit zu sein. Zur evangelikalen Bewegung gehörten sowohl die Position der Liebenzeller Hochschule als auch des Marburger Seminars. Sie verträten gemeinsam die Auffassung, dass Deutschland eine öffentliche Wortverkündigung des Evangeliums brauche. Der AfeM ist ein Arbeitszweig der Deutschen Evangelischen Allianz. Er wurde 1985 als Reaktion auf Bestrebungen von Missionstheologen gegründet, die Verbreitung des christlichen Glaubens zugunsten von entwicklungspolitischen Aktivitäten aufzugeben.
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